Detlef Hartmann – Kernthesen des Vortrags
Technologische Angriffe & die Neuformierung der Macht
Im letzten Vortrag der Reihe Im Schatten der Zeitenwende hat Lars Wehringer von der
Gruppe Capulcu die aktuelle KI-Entwicklung und ihre Hintergründe ausgeleuchtet. Ich
möchte dies heute in den größeren historischen Zusammenhang einordnen.
Der Blick auf diesen Zusammenhang wird möglich, wenn man unter die Ebene des
ökonomistischen Verständnisses steigt, auf der sich die Orthodoxie der kapitalistischen
ebenso wie marxistischen Wirtschaftswissenschaft bewegt. Sie stellt den Tausch in den
Mittelpunkt, von Waren, Arbeitskraft und Geld. Anders selbst Marx in seinen revolutionären
Schriften bis etwa zu seinem 26. Lebensjahr. Hier ist es der Kampf zwischen Kapitalisten
und Arbeitern, der die historische Dynamik bestimmt. Krieg mit den Mitteln der Maschinerie
und Arbeitsorganisation auf der einen Seite, gegen deren zerstörerische Gewaltsamkeit die
Arbeiter auf der anderen Seite kämpfen, mit ihren Mitteln solidarischer Gegenmacht – von
Sabotage bis zur Zerstörung der kapitalistischen Kampfmittel. Die ökonomischen Kategorien
und Verhältnisse sieht er nur als Ausdruck dieser Auseinandersetzungen. Die spätere Abkehr
zugunsten eher reformistischer Vorstellungen hatte etwas mit dem Wunsch nach politisch-
ökonomischer Kontrolle zu tun. Auf der kapitalistischen Seite trug die Theoriebildung diesem
Kampfverhältnis durch die Grundvorstellung der „schöpferischen Zerstörung“ aus der Feder
des mit Keynes bedeutendsten Theoretikers Joseph Schumpeter Rechnung: der Zerstörung
überkommener gesellschaftlicher Verhältnisse, Arbeits- und Lebensformen und der darin
zum Ausdruck gebrachten Arbeitermacht und ihrer Reorganisation auf neuem Niveau ein-
schließlich der damit verbundenen erweiterten Profitspielräume. Im Kern der „schöpferischen
Zerstörung“ sieht er Innovationsoffensiven, technologische Angriffe zur Umwälzung aller
gesellschaftlichen Verhältnisse. So tut es auch die Zunft der bis heute überwiegend an
Schumpeter orientierten kapitalistischen Wirtschaftswissenschaftler.
Marx selbst hat diesen Kampf noch während der Ausläufer der sogenannten „industriellen
Revolution“ und der anschließenden Eisenbahnoffensive miterlebt, leider nunmehr aber in
ökonomistisch reduzierter Weise behandelt.
So wie es der frühe revolutionäre Marx gesehen hat, betrieb der Fordismus/Taylorismus
seine Innovationsoffensive ausdrücklich als „Krieg gegen die Arbeiter*innen“. Dies, um der
von ihnen zum Ende des 19. Jahrhunderts mit Hilfe ihrer Kontrolle über den Arbeitsprozess
herbeigeführten Krise zu entgegnen. In einer erbitterten Auseinandersetzung wurde die
Arbeit zerlegt und seriell reorganisiert, so wie es etwa im Fließband seinen Ausdruck ge-
funden hat. Gesteigerte Kontrolle, Produktivität, Profite waren das Ergebnis. Diese Offensive
wurde nach und nach in die gesamte Gesellschaft hineingetrieben und das weltweit.
Es war der Widerstand gegen diese soziale Maschinisierung, diese Fabrikisierung der
gesellschaftlichen Prozesse, der den Kapitalismus erneut in die Krise brachte. Nicht nur
Arbeiter*innen, Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen widersetzten sich den
technologischen Zugriffen und suchten ihre Befreiung in einem selbstbestimmten Leben. Sie
verbanden sich in ihren Kämpfen und das weltweit. „Leben als Sabotage“ an der lebens-
feindlichen Maschinisierung war ein Slogan aus diesen Kämpfen. Treibende Akteure
kapitalistischer Erneuerung machten die Entwicklung der Halbleiter zum Auftakt und die
Informationstechnologien zum Kern des technologischen Angriffs als Ausweg aus der Krise
und Reorganisation des kapitalistischen Kommandos und der Profitabilität. Die IT-Inno-
vationsoffensive dauert bis heute an und wurde, wie zuvor die tayloristische, in alle
gesellschaftliche Bereiche getrieben. Wieder waren ihre Protagonisten fast ausschließlich
männliche Avantgarden, die damit wie auch in vorherigen Offensiven das patriarchale
Regime erneuerten.
Die Offensive verlief auch wie die früheren nicht gradlinig, sondern eher in Form von Vor-
stößen und Versuchen, von Trial und Error. So brachten die Hinwendung von Such-
maschinen zur Auswertung und Verwertung der Suchprozesse und damit der Kommunikation
der Sucher*innen eine markante Zäsur. Ebenso markant war die Entwicklung des Smart-
phones. Sie führte zu einem erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit, einer Isolierung und
Vereinzelung der Teilnehmer*innen am öffentlichen Verkehr, zur Steigerung sozialer Kon-
trolle und Überwachung und Verwertung des individuellen Verhaltens. Schließlich gehört
auch die Entwicklung der KI noch zu dieser Innovationsoffensive. Nicht allein Angebot und
Markt stellen die Mittel ihrer Verwirklichung dar, sondern auch Gewalt bis zum Krieg wird
hierzu genutzt. Dies war nicht nur in der Geschichte der Offensiven so, wie sich am ersten
und zweiten Weltkrieg ablesen lässt, sondern ist auch heute noch der Fall. In den aktuellen
Kriegen werden IT-gesteuerte Waffen (weiter-)entwickelt, die kriegsträchtigen Spannungen
wie etwa die zwischen den USA und China treiben die Vorstöße auf dem Gebiet neuer IT-
Waffensysteme bis hin zu autonom operierenden Einzelwaffen und Schwärmen.
Es müssen nicht manifeste Kriege sein, in denen der technologische Angriff einen neuen
Schub sucht. Als die IT-Innovationsoffensive zum Ende der 2010er Jahre hin stagnierte, gab
die Corona-Pandemie die Gelegenheit zum Durchbruch, weltweit und auf vielen Einzel-
feldern: Videokonferenzen, Homeoffice, Bildung und Erziehung, Verwaltung, E-Government,
E-Justiz, im Gesundheitssektor, im Finanzsektor. Derart markant, dass das Coronavirus als
das „digitalisierende Virus“ willkommen geheißen wurde.
Historisch wurden Innovationsoffensiven bis zur Erschließung aller gesellschaftlichen Be-
reiche fortgesetzt oder bis Widerstand und Krise ihnen ein Ende machte. Das ist auch heute
so zu erwarten. Die Faschisierung stellte und stellt dabei beileibe kein Hindernis dar. Der
historische Faschismus in Italien und Deutschland zielte auf die fordistisch/tayloristische
Entwicklung. Hitler etwa und seine Führungsriege waren besessen von dem Gedanken
fordistischer Erneuerung. Und in den USA, dem heute maßgebenden Land, verbinden sich
faschisierende mit innovativen Energien, auch personell.
Der Rückblick in die Geschichte macht grundsätzlich Sinn. Denn die Innovationsoffensiven
vollziehen sich in analogen Entwicklungsfiguren. Das liegt an der sich jedes Mal um einen
Innovationskern entfaltenden Dynamik in weitere Felder gegen die Resistenzen über-
kommener Lebens- und Arbeitsformen. Am Schluss kommen nach privat betriebenen
Anfängen der öffentliche Bereich und das Finanzsystem. Auch weiten sich krisenhafte
Blockierungen ins Gesamtsystem aus, was auch die Kriege zu ihrer Durchbrechung
zunehmend wahrscheinlicher macht. Wenn wir Widerstandsperspektiven thematisieren, so
sollten wir nicht nur nach direkten Reaktionen auf den technologischen Angriff suchen. Die
Investitionen bringen nicht nur neue Dimensionen von ungeheurem Reichtum der
innovativen Avantgarden mit sich, sondern auch neue Armut derjenigen, deren Arbeits- und
Lebensformen durch die Offensive zerstört oder prekarisiert wurden. Das gilt auch und vor
allem für den globalen Süden. Dem begegnen die Betroffenen nicht nur mit Flucht, sondern
auch mit zunehmendem Widerstand. Es ist die Aufgabe der metropolitanen Linken, über die
Länder und Kontinente hinweg die Verbindung mit ihnen zu suchen, in konkreten Formen
eines übergreifenden neuen Internationalismus jenseits der alten vom nationalen Rahmen
her bestimmten Internationalismus.
Literatur:
Capulcu Redaktionskollektiv – Disrupt! (2017), Delete! (2019), Diverge (2021), Münster
(Unrast);
D. Hartmann – Covid-Politik und die Neuformierung der Macht, Berlin 2022;
ebd. – Krisen, Kämpfe, Kriege, Bd. 1 (2013) und Bd.2 (2019), Berlin (Assoziation A)