Das Chaos, in dem wir uns befinden, scheint geradewegs auf einen weiteren Höhepunkt zuzusteuern. Es erscheint, als befänden wir uns inmitten eines epochalen Bruchs, in dem die Herrschaft von Staat und Kapital fundamentale Transformationsprozesse durchläuft, die sich vor allem in einer fortschreitenden Autoritarisierung des Staates und seiner Repressionskräfte bemerkbar machen. Doch schauen wir tiefer, so beobachten wir die Auswirkungen der Transformation auch auf individueller sowie Beziehungsebene.

Besonders an dieser Situation ist allerdings, dass dies nicht auf erbitterten Widerstand durch die radikale Linke stößt, sondern von dieser sogar in Teilen unterstützt wird. Dies drückt sich vor allem in der Haltung zur staatlichen Corona-Politik sowie zu den fortschreitenden Kriegen in der Ukraine und Gaza aus. Statt während der Pandemie eine kritische Haltung zu den Maßnahmen und der Ausweitung staatlicher Zugriffe einzunehmen, forderten viele radikale Linke gar weitere Lockdowns oder einen härteren Umgang der Polizei mit Demonstrant*innen und nahmen somit eine staatsaffirmative Haltung ein. Statt in den staatlichen Maßnahmen eine Instrumentalisierung der Pandemie und einen (technologischen) Angriff auf unsere sozialen Beziehungen zu sehen, wurde das eigentliche Problem in den irrationalen Reaktionen vieler Demonstrant*innen verkannt. Ähnlich staatsaffirmativ lässt sich die Positionierung im Ukraine-Krieg beschreiben. Hier entschieden sich viele für ein geopolitisches Lager, statt die kapitalistische Staatenkonkurrenz und die damit verbundene neue Blockbildung als immer wiederkehrende Ursache für die kriegerische Eskalation zu erkennen und eine antiautoritäre sowie antimilitaristische Position einzunehmen. Auch der deutschen Beteiligung am israelischen Massentöten in Gaza durch Waffenlieferungen stehen viele Linke gleichgültig bis verteidigend gegenüber, wodurch sie ihre Stellung als Teil der ideologischen Staatsapparate erfolgreich behaupten können. Zudem sollte auch der Digitalisierung in ihrer gegenwärtigen Entwicklung als Teil der fortschreitenden Autoritarisierung des Staates unbedingt kritisch begegnet werden. Während durch Plattformökonomien, Sharing Economy und Social Media zuvor nicht-kapitalisierte Lebensbereiche inwertgesetzt werden, produzieren wir durch deren Nutzung zugleich Daten, die als Ressource auf Märkten gehandelt werden und die Möglichkeitsbedingung für moderne Überwachung, Kontrolle, prädikative Polizeiarbeit, KI Training etc. sind.

Mit unserer kommenden Veranstaltungsreihe möchten wir etwas zu dem Versuch beisteuern, die Ereignisse der vergangenen Jahre aufzuarbeiten und zu analysieren. Nur durch eine solche Analyse können wir zu einem gemeinsamen Verständnis der Verhältnisse kommen, welches unabdingbar dafür ist, das Terrain der Symbolpolitik und defensiven Praxis zu verlassen.

»Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, das erst noch kommen wird. Wenn es eine gibt, ist es die, die schon da ist, die Hölle, in der wir jeden Tag leben, die wir durch unser Zusammensein bilden. Es gibt zwei Arten, nicht unter ihr zu leiden. Die erste fällt vielen leicht: die Hölle zu akzeptieren und so sehr Teil von ihr zu werden, daß man sie nicht mehr sieht. Die zweite ist riskant und verlangt ständige Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft: zu suchen und erkennen zu lernen, wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Dauer und Raum zu geben.«
– Italo Calvino

»Aus dem Zustand absoluter Schwäche, Isolation und Defensive ausbrechen können wir bloß, wenn wir überhaupt wieder den Willen aufbringen, aus den erdrückenden Trümmern etwas Neues aufzubauen« (Veranstaltungsreihe Gezeiten der Revolte, welche uns, neben des NON Kongresses, zu dieser Reihe inspiriert hat).